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Leonie Beiersdorf

 

   

 

   
 
"Henry van de Velde - Meister des europäischen Jugendstils" - Leonie Beiersdorf, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Jugendstil im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg
 

Henry van de Velde - Meister des europäischen Jugendstils

 

Sehr geehrter Herr Luykx,

sehr geehrter £azicki,

sehr geehrter Herr Drobek,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

ich freue mich sehr, heute hier sein zu dürfen und mit Ihnen den Künstler und Menschen Henry van de Velde und sein Werk in Trzbiechow studieren zu können. Wenn man wie ich zu Beginn einer Konferenz über Henry van de Velde einen Überblick über das Werk eines der wichtigsten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts geben möchte, noch dazu den wichtigsten Vertreter des europäischen Jugendstils, hat man ein großes Problem: was wählt man aus?

Wir haben mit van de Velde eine Persönlichkeit vor uns, die als Kunstmaler, Kunstgewerbler, Architekt, Autor, Pädagoge und auch als Unternehmer aktiv war und auch schon zu Lebzeiten beachtliche Erfolge feiern konnte - vielleicht mit Ausnahme einer der genannten Kategorien, denn er war nicht gerade ein guter Unternehmer. Das Werk, das er uns hinterlassen hat, besteht demnach aus einer Vielzahl verschiedener Gattungen, angefangen mit Gemälden und Zeichnungen, Typographie und Textil-Entwürfen, Schmuck und Tafelsilber, Porzellan und Keramik, einzelnen Möbeln und ganzen Inneneinrichtungen, und nicht zuletzt auch Gebäuden, darunter befinden sich seine eigenen Wohnhäuser, aber auch Kunstmuseen sowie ein Theater. Hinzu treten zahlreiche Essays, in denen er sich kritisch zu zeitgenössischen Entwicklungen in der Kunst äußerte und als Verfechter des Kunstgewerbes und des Jugendstils in Erscheinung trat. In seinen Memoiren, die er in den fünfziger Jahren abschloss, lassen sich zudem weitere Informationen zu seinem Leben als öffentliche Person, aber auch als Privatmann finden.

Angesichts der Tatsache, dass wir hier ein internationales Symposium veranstalten, möchte ich einige Werke hervorheben, die, wie ich hoffe, geeignet sind, ein besonderes Merkmal van de Veldes zu illustrieren: Henry van de Velde als ein Grenzgänger und grenzüberschreitender Künstler - in anderen Worten: Henry van de Velde als ein europäischer Künstler.

Das ist weit mehr als ein Topos. Es ist vielmehr eine beachtliche Leistung, wenn wir uns Henry van de Veldes Lebensdaten vor Augen führen: 1863 - 1957. In dieser Zeitspanne lebte er in Belgien, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz. Zudem reiste er aus beruflichen Gründen mehrmals nach Paris, nach Riga und später auch in die USA. Diese Zeitspanne um 1900 war geprägt von nationalistischen Strömungen und gravierenden politischen Unruhen in Europa, nicht zuletzt als Ursache und Folge der beiden Weltkriege, die van de Velde durchlebte. Während des Ersten Weltkriegs bemängelte er seine exponierte Situation als Belgier im Ausland bis hin zur Diskriminierung. Unter diesen politischen Grenzziehungen litt er sehr. Und dennoch verströmt sein Werk eine internationale, grenzüberschreitende Ästhetik. Sein Ziel war eine ästhetische Reform, die darin bestand, die materiellen Lebensbedingungen von Menschen - und somit den Lebenswert - zu verbessern, indem er dazu aufrief, Schönheit zu schaffen und der Hässlichkeit den Kampf anzusagen. Charakteristisch für seine Zeit und für seine Sympathien für den Sozialismus benutzte er eine durchaus kämpferische Rhetorik für seine gesellschaftliche Mission: "Wir haben die Schönheit gewählt als Mittel, um eine würdigere Umwelt aufzubauen. . Die Schönheit ist eine Waffe, und das Mittel ist revolutionär." Im Rückblick lässt sich sagen, dass Henry van de Velde der einer der ganz großen Protagonisten der Reformbewegung in Europa gewesen ist.

Lassen Sie uns seine Lebensreise skizzenhaft betrachten, wobei wir in Belgien beginnen:

Henry van de Veldes Wurzeln liegen im flämischen Antwerpen. Gegen den Wunsch seiner Eltern schrieb er sich 1880 nach dem Abitur als Student in der Akademie der Schönen Künste ein, um Malerei zu studieren. Darin war er ganz erfolgreich, jedoch unbefriedigt. ( 80) Er interessierte sich zunehmend für die französische Kunstszene und deren Avantgarde-Maler und gründete in Antwerpen die "Association pour l'Art Indépendant", die Künstler, Intellektuelle und Kunstfreunde zusammenführte. Diese Schaffung eines Forums ist charakteristisch für Henry van de Velde, der sein ganzes Leben lang den engen Kontakt mit Intellektuellen und Künstlern suchte und pflegte. Sein Adressbuch darf man sich vorstellen wie das "Who is who" der damaligen Zeit. Van de Velde wurde als Mitglied der exklusiven Brüsseler Avantgarde-Gruppe "Les Vingt" aufgenommen, deren Ausstellungen internationale Anerkennung fanden. In dieser Zeit begegnete van de Velde namhaften französischen Künstlern und stellte beispielsweise zusammen mit Auguste Rodin, Henry de Toulouse - Lautrec und Vincent van Gogh aus. Wir finden Anlehnungen an diese Künstler und ihre lineare Formensprache in den frühen Gemälden Henry van de Veldes. Hier (56) sehen wir beispielsweise eine abstrakte Pflanzenkomposition von 1893, die in ihrer geschwungenen Linie bereits einen starken Hang zur Dynamik und zur Abstraktion erkennen lässt. Auch im figurativen Bereich, hier (88) eine Heuernte von 1892, durchzieht er das Blatt mit feinen parallelen Linien in der grünen Fläche.

In Brüssel suchte van de Velde nach Orientierung. Bislang war er als Maler tätig gewesen, was in der heutigen Rezeption seines Oeuvres häufig vernachlässigt wird. - Vielleicht ist es von Interesse für die Schablonenmalerei auch hinsichtlich des Sanatoriums hier in Trzebiechów, diese Frühphase neu zu beleuchten. - Gleichzeitig interessierte sich van de Velde zunehmend für gesellschaftspolitische Fragestellungen, las Nietzsche, die Bibel, anarchistische Literatur. Die klassische Trennung von freier und angewandter Kunst lehnte er ab, und so stellte er 1891 zum ersten Mal Werke der angewandten und dekorativen Kunst in einer Ausstellung der Vingts aus. Zunächst interessierten ihn Buchillustrationen und Keramik. Schon darin sah er ein gewisses revolutionäres Potential, das auf die Gesellschaft ausstrahlen sollte. In seinen Memoiren formuliert er daher mit gewissem Stolz: "Der Kunsthandwerker hatte seinen Platz und seinen Rang unter den freien Künsten wiedererobert." (S. 58)

Seit den 1890er Jahren verließ Henry van de Velde das Gebiet der Malerei und entwickelte eine ungeheure Lust am Kunsthandwerk. In seinen frühen Holzschnitten oder in dem bekannten Design für einen Teppich in Applikationstechnik, "Die Engelswache", (76) lassen sich jedoch stilistische Ähnlichkeiten mit der Linienführung und der kräftigen und reinen Farbwahl seiner frühen Gemälde wieder erkennen. Van de Velde selber kommentiert dies leicht ironisch: "Auch als ich die Malerei aufgegeben hatte, verließ mich der Dämon der Linie nicht, und als ich die ersten Ornamente schuf, entstanden sie aus dem dynamischen Spiel ihrer elementaren Kräfte." (S. 68)

In den frühen 1890er Jahren begeisterte sich Henry van de Velde nicht nur für die französische Avantgarde, sondern auch für die englische Arts and Crafts - Bewegung, die ihm nicht zuletzt durch seine Ehefrau Maria (95) nahegelegt wurde. Diese hatte bei einem Aufenthalt in London diverse Kunstgegenstände und grafische Arbeiten gekauft, die ihrem Mann als Anschauungsmaterial gereichten. Auch als Lehrmeister in Antwerpen und an der Université Nouvelle in Brüssel betonte van de Velde die industriellen Künste und die Ornamentik, um dem Kunstgewerbe den Rücken zu stärken.

Auch sein Privatleben richtete Henry van de Velde nach diesen Gesichtspunkten aus. Man könnte fast meinen, sein Privatleben war ein Schaufenster seiner ästhetischen Überzeugungen. Das erste Haus, das das Ehepaar van de Velde baute und bezog, lag in dem Brüsseler Vorort Uccle. Das Haus trug den Namen Bloemenwerf (103) und war komplett von van de Velde entworfen worden: Architektur, Einbauten, Möbel, Tapeten und Textilien. Dies sorgte für viel Aufsehen in der damaligen Presse. Selbst die Kleidung seiner Frau, (221) war von van de Velde entworfen worden und spiegelte die neue Ästhetik in seiner Konturierung des weiblichen Körpers und seinem Stoffdesign wider. Zahlreiche Fotografien der Reformkleidung stellen uns zudem van de Veldes Frau als Förderin seiner Kunst vor. Das Haus wurde zum kulturellen Anziehungspunkt für Freunde und Bekannte auch aus dem Ausland. So kamen der einflussreiche Kunstkritiker Julius Meier-Gräfe und der Pariser Kunsthändler Siegfried Bing zu Besuch, waren begeistert von dem Ensemble und wurden in der Folgezeit zu den großen Förderern des jungen Künstlers in Berlin und Paris.

In den späten 1890er Jahren erhielt Henry van de Velde zahlreiche Aufträge von wohlhabenden Berliner Privatleuten, um deren Stadtwohnungen im neuen Stil auszustatten. Darunter befand sich auch Graf Harry Kessler, der zu einem der wichtigsten Auftraggeber und Wegbegleiter van de Veldes werden sollte (253). Um der sprunghaft gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden, gründete van de Velde mit viel Fremdkapital eine Handwerkstatt in Uccle, in der er eine Reihe von Assistenten beschäftigte, die zudem von externen Handwerkern unterstützt wurden. Neben den Wohnungseinrichtungen überwiegend in Berlin, entwarf Henry van de Velde auch Produktgestaltungen und Werbegrafik, z.B. die sehr eleganten Lösungen für die Tropon - Werke in Köln - Mülheim (136). Ebenso entwarf er eine Luxusausgabe von Nietzsches "Also sprach Zarathustra" für den bereits genannten Graf Harry Kessler. Auch Textilentwürfe für die Krefelder Textilindustrie stammen aus dieser Zeit. In Krefeld war man seit 1900 besonders an der Reform der Frauenkleidung interessiert und hatte verfolgt, welche Entwürfe van de Velde für seine Frau entwickelt hatte. Wenn man sich diese Beispiele betrachtet, wird deutlich, dass sich Privatleben und öffentliches Wirken des Künstlers nicht eindeutig voneinander trennen lassen.

1898 werden die "Henry van de Velde GmbH Kunstwerkstätten" als Filiale der belgischen Werkstatt in Deutschland gegründet. Die Gesellschaft ist mühevoll mit viel Fremdkapital finanziert worden. Trotz vieler Aufträge war dies sicherlich ein riskantes Unterfangen. 1900 stand die Firma bereits vor dem Bankrott und wurde aufgelöst, was den Künstler in eine schwere finanzielle und psychische Krise stürzte. Hermann Hirschwald, ein früherer Auftraggeber, übernahm Teile des Werkstattbestandes und beschäftigte van de Velde als Angestellten weiter, der inzwischen mit Familie nach Berlin umgezogen war. Im Gegenzug erhielt Hirschwald jedoch auch die Rechte der vorangegangenen Arbeiten. Nach gravierenden Differenzen mit Hirschwald kam es zur Zwangsversteigerung der Firma. Graf Harry Kessler sprang dem Künstler zur Seite und verschaffte ihm mit Hilfe von Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester des berühmten Friedrich Nietzsche, die Stelle als Leiter des kunstgewerblichen Seminars in Weimar. So kommen wir zu einer neuen Lebensstation des Künstlers.

Zwischen 1902 und 1910 verlebte van de Velde in Weimar seine produktivste Phase, was nicht zuletzt durch die großzügige Förderung des Kunsthandwerks durch die großherzogliche Familie begünstigt wurde. Henry van de Velde wurde Teil eines regen Kulturbetriebs, der aufgeschlossen gegenüber seine Reformideen war. Als Berater für das Handwerk und die Kleinindustrie des Großherzogtums Sachsen - Weimar war er über die Stadtgrenzen hinaus tätig und bekannt. In gewisser Weise war er in Weimar ein Star, dem jedoch der Rummel um seine Person anfangs nicht behagte. Drei herausragende Aufträge aus dieser Zeit möchte ich Ihnen genauer vorstellen:

Für den Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus entwarf van de Velde die Inneneinrichtung eines groß angelegten Kunstmuseums in der Stadt Hagen, das ambitioniert als Gegengewicht zum Kunstzentrum Berlin konzipiert war. 1902 wurde jenes Museum Folkwang eröffnet und empfing den Besucher des Neo - Renaissance - Baus mit einer prachtvollen Inneneinrichtung von van de Velde, die Sie hier sehen können. Osthaus und van de Velde verband das große Engagement für die Reformbewegung, die versuchte, eine größere Nähe zwischen Lebenswelt und Kunst herzustellen. Auch die Familie Esche hatte sich diesen Ideen verschrieben.

Für den Textilunternehmer Herbert Esche in Chemnitz entwarf van de Velde 1902 ein großes avantgardistisch anmutendes Wohnhaus, dessen Gartenseite in diesem Bild (33) zu sehen ist. Nach zahlreichen Aufträgen für Inneneinrichtungen ist dies das erste architektonische Auftragswerk van de Veldes in Deutschland. Die ockergelbe Fassadengestaltung mit ihrer reduzierten Form ist weit entfernt von der gemütlich-spielerischen Architektur eines Haus Bloemenwerf bei Brüssel. Sie entspricht einer stärker funktionalen Ausrichtung van de Veldes Jugendstils. Hier haben wir eine Ansicht (33) der Eingangshalle, die eine relativ strenge und geradlinige Formensprache spricht. Die Wände müssen Sie sich in einem kräftigen Blauton vorstellen. Zurückhaltende Wandbögen und leicht in einen Bogen gezogene Türrahmungen finden sich zwar auf der Galerie, jedoch halten sich weitere organische Formen zurück.

Heute ist das Gebäude ein Museum. Im Erdgeschoss vermitteln das ehemalige Speisezimmer und der Musiksalon weitgehend original möbliert einen Eindruck des ursprünglichen Ambientes der von van de Velde gestalteten "Lebensräume". Im Obergeschoss der Villa gewährt eine Dauerausstellung im ehemaligen Schlaf-, Kinder- und Badezimmer Einblicke in das weitgefächerte Gesamtschaffen des vielseitigen Künstlers.

Henry van de Velde erhielt in etwa zur selben Zeit den Auftrag, das Friedrich Nietzsche - Archiv in Weimar umzugestalten, das im Oktober 1903 neu eröffnet wird. Hier sehen wir einige Impressionen aus dem Nietzsche - Archiv (262), die im Unterschied zur Villa Esche noch die charakteristische geschwungene Linie, die Kraftlinie, des Jugendstilkünstlers zeigen. In diesen beiden Bildern ist der Lesesaal zu sehen. In organisch anmutenden Rundungen gehen Architektur und Inneneinrichtung ineinander über und bilden ein elegantes, harmonisches Ensemble. Hier folgt eine alte Detailaufnahme des Türgriffs des Nietzsche-Archivs in Weimar. In der Mitte des Kreuzes befinden sich nach beiden Seiten zwei klinkenartige Türgriffe, die vielleicht nicht ganz leicht zu erkennen sind. Die Felder darüber sind in sich mit feinen ornamentalen Linien durchzogen, die konzentrische ungleichmäßige Kreise beschreiben. Dies kann an die Linien in den Grünflächen des Gemäldes "Heuernte" erinnern. Wie man auch anhand dieser Details sehen kann, zieht sich die Linie unverkennbar durch van de Veldes Werk.

Den Rang eines Denkmals von außerordentlicher kunstgeschichtlicher Bedeutung erhielt das Haus 1905 mit dem Umbau seines Portals, des Vestibüls und der Erdgeschoßräume durch Henry van de Velde. Die ästhetisch anspruchsvolle Atmosphäre dieser Jugendstilräume mit ihren verschiedenen Nietzsche- Bildnissen war als äußerer Rahmen für das "Neue Weimar" gedacht, das Elisabeth Förster - Nietzsche und Graf Harry Kessler etablieren wollten. In Anlehnung an das klassische Weimar Goethes und Schillers wollten sie nun einhundert Jahre später Nietzsche zum neuen Angelpunkt erheben. In der Tat zog das Nietzsche - Archiv zahlreiche einflussreiche Künstler, Literaten und Intellektuelle nach Weimar, denen auch van de Velde begegnete.

Aus diesen ersten Jahren in Weimar stammte auch der Auftrag der Prinzessin Marie Alexandrine Prinzessin Reuß für die Innengestaltung des Sanatoriums hier in Trzebiechów. Da wir noch viel davon hören werden, sei an dieser Stelle nur kurz darauf verwiesen.

1907 gründete van de Velde eine Kunstgewerbeschule in Weimar (284), deren Leiter er bis in das Jahr 1914 war, bevor diese 1915 aufgelöst wurde. Man darf diese jedoch als Vorläufer der späteren Bauhaus - Universität in Weimar betrachten. Auch der 1907 gegründete Werkbund sah van de Velde in seinen Reihen. Innerhalb der Werkbund - Diskussion um industriemäßige Typisierung oder individuelles Design nahm van de Velde einen konservativen Standpunkt ein und protestierte gegen die Idee der Typisierung. Allgemein lässt sich sagen, dass van de Velde aufgrund seiner Kontakte und Gruppenzugehörigkeiten in einem engen künstlerischen Netzwerk in Deutschland lebte.

Während des Ersten Weltkriegs hatte van de Velde es schwer, seiner Tätigkeit in Weimar nachzugehen. Als Belgier in Deutschland musste er sich zeitweilig dreimal täglich auf einer Behörde melden und jeweils längere Wege zwischen der Innenstadt und seinem Wohnhaus zurücklegen. Er spürte den Wunsch, wieder in seine Heimat zurückzukehren. Dies gestaltete sich jedoch schwierig. Zunächst ging er 1917 ins Schweizer Exil, wo er Else Lasker - Schüler, Paul Cassirer und Ernst Ludwig Kirchner traf. Kirchner fertigte ein Holzschnitt - Porträt von van de Velde an, das wir hier sehen (44).

In Holland lernte van de Velde 1919 das Sammler - Ehepaar Kröller-Müller kennen, für die er das berühmte Kunstmuseum in Otterlo errichtete. Das Verhältnis zwischen den Sammlern und van de Veldes seit 1907 siebenköpfiger Familie war so eng, dass der Künstler in das Haus de Tent in der Nähe zog, das Sie hier sehen können. Hier sehen wir das Kunstmuseum, das eine beachtliche Sammlung an Werken van Goghs beherbergte. 1921 wurde der Grundstein gelegt, wobei sich die Bauphase nicht zuletzt durch die Wirtschaftskrise sehr in die Länge zog. Das Projekt erhielt in späteren Jahren noch einen Umbau, den ebenfalls van de Velde betreute.

1925 folgte van de Velde einem Ruf an die Universität Gent und ging wieder zurück nach Belgien. Ein Jahr später zog er nach Brüssel, wo er zusätzlich zu seiner Genter Professur die Leitung des Institut Supérieur des Arts décoratifs übernahm, während er weiterhin Privataufträge ausführte. Selbst für den Monarchen, König Leopold III. konzipierte er die Ausstattung eines Arbeitszimmers. Zudem begann van de Velde als Berater für den belgischen Denkmalschutz tätig zu werden.

1937 kam ein weiterer, prestigeträchtiger Staats - Auftrag auf ihn zu. In Zusammenarbeit mit Jean-Jules Eggerieux und Raphael Verwilghen entwarf er den belgischen Pavillon für die Weltausstellung in Paris. Zwei Jahre darauf ist er erneut an der Gestaltung des belgischen Pavillons beteiligt, dieses Mal in New York, wo man ihm viel Beachtung schenkte.

Während der Besetzung Belgiens durch Deutschland im zweiten Weltkrieg blieb van de Velde weiter im Dienste des Denkmalschutz - und Wiederaufbauprogramms tätig, weswegen ihn nach Kriegsende heftige Vorwürfe trafen, dass er mit dem Feind kollaboriert habe. Sein Leumund wurde schwer beschädigt, was auch ein in die Länge gezogenes Gerichtsverfahren nicht beheben konnte.

1947 ging er ein zweites Mal ins Exil in der Schweiz, wo er die kulturell - politische Atmosphäre als befreiend empfand. Im Züricher Kunstgewerbemuseum fand 1952 eine Ausstellung statt, die unter dem Titel "Um 1900" die Kunstszene um die Jahrhundertwende reflektierte. Hier wurde Henry van de Velde eine zentrale Position zugewiesen. Er selber begann ebenfalls seine Rolle in der Kunstgeschichte zu historisieren und verortete sich auch in eigenen Vorträgen. Er hinterließ eine große Menge Notizen zu seinen Memoiren, die uns heute noch eine wertvolle Quelle sind, und nach seinem Tod 1957 in Deutschland erschienen sind.

Henry van de Velde hat auf wunderbare Weise, mit viel persönlichem Einsatz und bemerkenswerter Konsequenz die angewandte Kunst in Europa grundlegend erneuert und zur einer breiten Anerkennung geführt. Es ist eine kleine Sensation, dass fünfzig Jahre nach seinem Ableben ein weiteres Ensemble entdeckt wurde, dass seine Leistungen eindrucksvoll dokumentiert. Ich freue mich auf die Ausführungen meiner Nachredner zu dem hiesigen Sanatorium und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

   
   
 
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